Unsere Sicht zu aktuellen Themen
Hier finden Sie unsere Einschätzungen zum aktuellen Marktgeschehen sowie Zukunftstrends.
01.07.2024
Von: Dr. Klaus-Michael Menz
Handelsfinanzierung ist der Sammelbegriff für eine Vielzahl von unterschiedlichen Finanzinstrumenten, einschließlich Bargeld, Krediten, Investitionen und anderen Vermögenswerten, die zur Realisierung und Erleichterung des nationalen wie internationalen Handels verwendet werden können 1. Die Handelsfinanzierung spielt eine sehr wichtige Rolle im globalen Wirtschafts- und Handelssystem, indem sie Unternehmen unter anderem dabei unterstützt, ihre Handelsaktivitäten zu finanzieren, ihre Liquidität zu sichern und das Risiko von Zahlungsausfällen zu minimieren.
Dass Trade Finance, wie der Sammelbegriff für Handelsfinanzierungen im internationalen Sprachgebrauch genannt wird, sprichwörtlich das Rückgrat des weltweiten Handels repräsentiert, kann man den Statistiken entnehmen: Dementsprechend machten beispielsweise Handelskredite in einer internationalen Analyse von über 3500 Unternehmen in 34 Ländern von 1990 bis 2011 durchschnittlich rund 25 % der gesamten Fremdverbindlichkeiten eines Unternehmens aus. 2
Auch wenn es intuitiv nachvollziehbar ist, daß Unternehmen, sofern die interne Finanzmittelgenerierung (betrieblicher Cash Flow) zur Finanzierung ihrer Handelstransaktionen nicht ausreichen sollte, auf externe Ressourcen zugreifen müssen, so bewegt die wissenschaftliche Forschung schon seit mehr als einem halben Jahrhundert die Frage, warum Unternehmen sich so oft für externe Handelskredite und nicht viel mehr auf die Finanzierung durch Banken stützen. Denn gemäß der sogenannten Pecking Order-Theorie (Donaldson, 1961; Myers und Majluf, 1984) steigen die Kosten einer Finanzierung mit dem Grad der Informationsasymmetrie zwischen dem Unternehmen und den externen Geldgebern sowie dem Risikogehalt der Finanzierungsart an.3 Tatsächlich können sich nach einigen Schätzungen die Finanzierungskosten für Handelskredite sehr hoch sein und in manchen Fällen bis zu 40% per annum betragen.4 Bankenfinanzierungen dürften daher in der Regel deutlich günstiger sein. Denn Banken sind gewissermaßen Spezialisten im Abbau von Informationsasymmetrien, da eine ihrer Hauptfunktionen in der Bonitätsbewertung von natürlichen und juristischen Personen besteht und sie damit Experten für private Ratings sind. In vielen Fällen fungieren sich auch als Hausbank für die Unternehmen und können so die Bonität sehr intensiv auch über die Zeit verfolgen. Mehr anzeigen
Warum dennoch so viele Unternehmen auf Handelskredite setzen, scheint sehr vielschichtige Gründe zu haben. Eine wichtige Ursache ist in der unstetigen Verfügbarkeit von Bankenfinanzierungen zu finden. Banken schränken ihr Kreditangebot in bestimmtem Phasen des Konjunkturzyklus deutlich ein (zum Beispiel in Abschwungphasen und Rezessionen), und in Krisenperioden kann es gar zu massiven Angebotsrationierungen kommen. Daher dürften die Unternehmen ihre Refinanzierungsquellen diversifizieren wollen, um auch in schwierigen Wirtschaftsphasen ihre Handelsaktivitäten finanzieren zu können und ihre Lieferketten aufrechterhalten zu können. Eine Begründung, warum Firmen auch in Zeiten reichlich vorhandenen Finanzierungsangebots von Banken dennoch zu Handelskrediten greifen, scheint aber in der allgemeinen Natur der Geschäftsbeziehung zwischen Abnehmer und Lieferanten zu liegen. So kennen die meisten Lieferanten ihre Kunden und deren Wirtschaftslage durch oftmals langjährige Erfahrungen sehr gut und besitzen damit spezifische Informationsvorteile (laufendes Monitoring der wiederholten Transaktionen, besondere Produktkenntnisse, etc.) gegenüber anderen externen Finanzgebern. Daher könnten in vielen Handelsbeziehungen die Informationsasymmetrien ähnlich hoch oder sogar geringer sein als in einer Bank-Kunde-Relation. Die Kosten eines Handelskredits müssen demnach nicht grundsätzlich höher sein als bei einer Bankfinanzierung.5
Nach der allgemeinen Beleuchtung der theoretischen und empirischen Bedeutung und Hintergründen der Handelsfinanzierung, soll im Folgenden ein Überblick über Trade Finance als Anlageklasse für Investoren gegeben werden.6
Grundsätzlich entsteht bei jeder Handelstransaktion, bei der ein Unternehmen seine gekaufte Ware nicht sofort in bar an den Lieferanten bezahlt, ein Handelskredit. Beim Abnehmer entsteht beim Kauf auf Rechnung mit mehr oder minder langen Zahlungsziel ökonomisch eine Handelsverbindlichkeit (Trade Payables), während bei Verkäufer spiegelbildlich eine Handelsforderung (Trade Receivables) entsteht. Da neben dem Kreditrisiko (möglicher Zahlungsausfall) für den Verkäufer vor allem auch Opportunitätskosten in Form ausbleibender Liquidität durch den gewährten Handelskredit resultieren, verkaufen Lieferanten häufig ihre Forderungen an einen externen Finanzier, der ihnen den Rechnungsbetrag unmittelbar auszahlt oder überweist. Bei diesem sogenannten Factoring überträgt der Lieferant auch das Risiko von Zahlungsausfällen an den Factor (Käufer der Forderung). Der Factor ist nun dafür verantwortlich, die Forderungen vom Warenkäufer einzuziehen. Während beim Factoring die Initiative für die Finanztransaktion meist vom Verkäufer ausgeht, wird beim sogenannten Reverse Factoring in der Regel der Abnehmer initiativ. Dabei verkauft dieser seine Verbindlichkeiten gegenüber dem Lieferanten an einen Finanzier/Investor, der die sofortige Begleichung der Rechnung übernimmt.
Durch das Reverse Factoring, für die auch die Begriffe Supply-Chain-Finance oder Lieferantenfinanzierung gebräuchlich sind, entstehen für alle Beteiligten gewisse Vorteile:7 Der Warenabnehmer kann durch Reverse Factoring oft besonders gute Preise und Rabatte für die Produkte aushandeln. Durch das Abtreten der Verbindlichkeiten an den Finanzier und die schnelle Bezahlung durch ihn werden mögliche Skonti optimal ausgenutzt. Gleichzeitig profitiert der Abnehmer selbst von längeren und individuell festgelegten Zahlungszielen zwischen ihm und dem Finanzierungspartner. Vorteilhaft sowohl für den Käufer als auch für den Lieferanten ist, dass der Lieferant durch die zuverlässige und schnelle Bezahlung stets weiter produzieren und liefern kann. Auch die frühzeitige Bezahlung der Verbindlichkeiten selbst ist ein nicht zu unterschätzender, wesentlicher Vorteil und hilft die Stabilität der Lieferkette zu sichern.
Früher war die Finanzierung von Handelsforderungen neben Banken vor allem spezialisierten Finanzdienstleistern wie Factoring-Unternehmen und Leasing-Gesellschaften vorbehalten. Im Zuge des gewachsenen Welthandels hat sich in den letzten Jahren aber vermehrt auch die Chance für institutionelle Investoren eröffnet, in diese für sie neue Anlageklasse zu investieren. Investitionen in Handelsforderungen bieten dem Anleger ein sehr attraktives Rendite-Risiko-Profil. Die Laufzeit der zugrundeliegenden Forderungen beträgt in der Regel nur zwischen 30 bis 180 Tagen, kann aber in Einzelfällen auch länger sein. Die erzielbaren Renditen hängen neben der Laufzeit vor allem vom Kreditrisiko des Forderungsschuldners ab. Allerdings ist die historische Ausfallrate von kurzfristigen Handelsfinanzierungen grundsätzlich sehr gering. So fielen gemäß der International Chamber of Commerce (ICC) beispielsweise während der globalen Finanzkrise 2008-2009 unter insgesamt 2,8 Mio. Handels-Transaktionen lediglich 445 Instrumente aus.8 Zum Vergleich: Die von der Ratingagentur Moody’s berechnete Ausfallrate für Unternehmensanleihen erreichte im gleichen Zeitraum einen Wert von fast 13% weltweit. Um das Ausfallrisiko weiter zu reduzieren, kann der Investor zusätzlich eine Kreditausfallversicherung der großen Kreditversicherungen (zum Beispiel Atradius, Coface, Euler Hermes, etc.) abschließen. Auch wenn in dem letzten Falle für den Investor kaum noch ein nennenswertes Ausfallrisiko besteht, kann man von möglichen Anlagerenditen in Höhe vom jeweiligen Dreimonatsgeldsatz plus einem Aufschlag von 100 bis 200 Basispunkten ausgehen, wobei der Aufschlag vor allem eine Prämie für die höhere Komplexität dieser Anlageklasse repräsentiert. Allerdings ist auch zu berücksichtigen, daß es sich bei Handelsforderungen um nicht-börsennotierte Instrumente handelt, die nicht jederzeit verkauft werden können. Auch wenn die Forderungen eine sehr kurze Duration aufweisen, dürfte der Renditeaufschlag also auch eine gewisse Illiquiditätsprämie beinhalten.
Diese attraktiven Eigenschaften haben auch die Gothaer Asset Management bereits vor etlichen Jahren bewogen, für ihre Kunden in diese neuartige Anlageklasse zu investieren. Allerdings war der Weg von der Theorie in die (Anlage-)Praxis mit einigen Hürden versehen. Da die Handelsforderungen in der Praxis i.d.R. über einfache Verbriefungsplattformen emittiert werden, sind sie zum Beispiel ohne ein externes Rating aufgrund regulatorischer Vorgaben nur von Solvency II-Unternehmen zu erwerben. Zudem gab es damals nur wenige spezialisierte Asset Manager, die diese Anlageklasse auch deutschen Investoren im Spezialfonds-Mandaten zugänglich machten. Aber aus heutiger Sicht hat sich der Hürdenlauf gelohnt.
Bewertung und Ausblick
Handelsforderungen stellen eine attraktive Anlageklasse für institutionelle Investoren dar. Auch wenn die Trade Receivables in der Regel kein externes Kredit-Rating erhalten, besitzen sie auch für Versicherungen ein attraktives Rendite-Risiko-Profil (höhere Risikoprämie als bei Investment Grade-Unternehmensanleihen, sehr niedrige SCR-Belastung und äußerst niedriges Ausfallrisiko). Die kurze Duration sollte auch für Personenversicherer kein Malus per se darstellen, da eine adäquate Zinsduration über ein Receiver Swaps Overlay realisiert werden kann.
Leider droht dem Geschäft mit kurzfristigen Handelsforderungen in der Europäischen Union durch regulatorische Veränderungen zukünftig signifikante Einschränkungen. Die Europäische Kommission hat nämlich im September 2023 einen Entwurf einer neuen EU-Verordnung zur Bekämpfung des Zahlungsverzugs im Geschäftsverkehr vorgelegt. Durch die neue Verordnung soll die Zahlungsverzugsrichtlinie 2011/7/EU aus dem Jahr 2011 ersetzt werden und damit eine Reduzierung des allgemeinen Zahlungsziels auf maximal 30 Tage eingeführt werden. Die geplante Reduzierung des Zahlungsziels im Geschäftsverkehr auf 30 Tage durch die EU-Zahlungsverzugsverordnung kann zu massiven Herausforderungen für alle Unternehmen führen, insbesondere für solche, die bisher deutlich längere Zahlungsfristen praktiziert haben. Dies könnte zu Liquiditätsengpässen und Finanzierungs-schwierigkeiten führen, insbesondere, wenn Unternehmen darauf angewiesen waren, Zahlungen erst nach einem längeren Zeitraum zu leisten. Diese Änderung könnte sich auch auf verschiedene Geschäftsmodelle und Finanzierungsinstrumente auswirken, einschließlich des Factorings und Reverse Factorings. Denn auch individuelle Vereinbarungen über die 30 Tage hinausgehende Zahlungsziele sollen dann im Anwendungsbereich der EU-Zahlungsverzugsverordnung nicht mehr möglich sein.9 Im Falle der tatsächlichen Implementierung ist zu erwarten, daß die Marktteilnehmer im Rahmen ihrer organisatorischen Möglichkeiten versuchen werden, Transaktionen in andere Jurisdiktionen zu verlagern. Allerdings dürfte das gerade für viele kleinere und mittelständische Unternehmen sehr schwierig werden. Da aber nahezu alle großen Wirtschafts- und Handelsverbände kollektiv gegen den Verordnungsentwurf als unverhältnismäßigen Eingriff die Vertragsfreiheit Sturm laufen10, steht zu hoffen, daß die EU-Kommission den Entwurf abmildern wird.
Literatur
1 Vgl. Deutsches Factoring-Portal, 2023, Was ist eine Handelsfinanzierung? https://deutschesfactoringportal.de/handelsfinanzierung/
2 Vgl. Ross Levine, Chen Lin, and Wensi Xie, 2016, Corporate Resilience to Banking Crises: The Roles of Trust and Trade Credit, NBER Working Paper No. 22153, April 2016.
3 Vgl. Donaldson, G., 1961, Corporate debt capacity; a study of corporate debt policy and the determination of corporate debt capacity, Graduate School of Business Administration, Harvard University; Stewart C. Myers, Nicholas S. Majluf, 1984, Corporate financing and investment decisions when firms have information that investors do not have. Journal of Financial Economics. Band 13, Nr. 2, S. 187–221.
4 Vgl. Chen, S., Ma, H., and Wu, Q., 2019, Bank credit and trade credit: Evidence from natural experiments. Journal of Banking & Finance, 108 (November), 105616.
5 Vgl. Marotta, G., 2005, When do Trade Credit Discounts Matter? Evidence from Italian Firm-level Data, Applied Economics, 37(4), S. 403–416.
6 Akkreditive, Dokumenteninkassi und Dokumentenakkreditive sind seit langem bewährte Instrumente in der Handelsfinanzierung. Eine Bewertung dieser traditionellen Methoden zeigt, daß sie trotz ihrer historischen Bedeutung auch aktuell eine wichtige Rolle spielen. Da sie aber vor allem von Banken offeriert werden, soll in diesem Beitrag nicht weiter auf diese Instrumente eingegangen werden.
7 Vgl. dazu https://www.abcfinance.de/glossar/factoring/reverse-factoring/.
8 Vgl. International Chamber of Commerce (ICC), 2010, Report on findings of ICC-ADB Register on Trade & Finance, Statistical analysis of risk profile of trade finance products, Paris.
9 Vgl. Stumpf, W., 2023, Geplante Verzugsverordnung beschränkt geübte Zahlungspraktiken, Börsen-Zeitung, 11.11.2023.
10 Vgl. zum Beispiel Handelsverband Deutschland, Stellungnahme zu dem Vorschlag der EU-Kommission für eine Verordnung zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr, Stand: 20. Oktober 2023.
01.12.2023
Von: Marius Gero Daheim
Angesichts der seit 2022 stark gestiegenen europäischen Anleiherenditen kommen zum ersten Mal seit der Europäischen Staatsschuldenkrise wieder Zweifel an der Tragfähigkeit der öffentlichen Verschuldung auf. Im Fokus steht dabei Italien mit seiner Schuldenquote von 142% des BIP – der zweithöchsten im Euroraum – und den schwächsten Bonitätsnoten unter den fünf größten Euro-Mitgliedstaaten. Droht eine Neuauflage der europäischen Staatsschuldenkrise?
Euro-denominierte Staatsanleihen und Anleihen staatsnaher Emittenten (SSA) sind ein wichtiger Bestandteil des Liquiditätsportfolios der Gothaer Asset Management. Die Risikoprämien dieser Zinsinstrumente werden fundamental durch die Kreditqualität (letztlich also die Schuldentragfähigkeit) der emittierenden bzw. garantierenden Staaten bestimmt. Politische und/oder wirtschaftliche Veränderungen, die kurz- oder mittelfristig, positiv oder negativ die Kreditqualität beeinflussen, sind daher zentral für die Beurteilung der relativen Attraktivität dieser Zinsinstrumente. Sie stellen - neben Marktfaktoren wie der Liquidität - den zentralen Parameter unserer taktischen Anlageentscheidungen dar. Die strategischen Perspektive auf das Anlageuniversum wird außerdem flankiert durch harte Obergrenzen für die Anteile von Zinsinstrumenten der ehemaligen Krisenländer Italien (max. 5%), Spanien und Portugal (zusammen max. 7,5%) an unseren gesamten Kapitalanlagen.
Den gesamten Artikel lesen Sie hier.
02.01.2023
Von: Dr. Klaus-Michael Menz
Behavioral Finance, oder verhaltensorientierte Finanzmarktforschung, wie man im deutschen Sprachraum sagen würde, ist ein interdisziplinäres Fachgebiet zwischen Wirtschaftswissenschaften, Psychologie und Soziologie, das sich mit der Erforschung der menschlichen Verhaltensweisen im Zusammenhang mit finanziellen Entscheidungen und dem Anlageverhalten auf den Finanz- und Kapitalmärkten befasst. Im Gegensatz zur traditionellen, neoklassischen Finanztheorie, die davon ausgeht, dass Menschen rational handeln und ihre Entscheidungen aufgrund von vollem Wissen und klaren, stabilen Präferenzen treffen und damit dem Leitbild des nutzenmaximierenden „Homo oeconomicus“ entsprechen, geht die Behavioral Finance davon aus, dass menschliches Verhalten durch Emotionen, Vorurteile und andere psychologische Faktoren beeinflusst wird, die das Denken und Verhalten beeinträchtigen können.
Natürlich stellt sich nun die Frage, welchen praktischen Wert diese Erkenntnisse für den Anleger und die Anlagepolitik an den Finanz- und Kapitalmärkten haben. Tatsächlich herrschte spätestens seit der bahnbrechenden Arbeit von Fama (1970) die Vorstellung vor, dass Finanzmärkte jederzeit effizient sind und alle bewertungsrelevanten Informationen sofort, vollständig und „richtig“ in den Wertpapierkursen Niederschlag finden. Eine Implikation davon wäre, dass Wertpapierkurse nicht prognostizierbar wären und Kursverläufe mehr oder minder zufällig wären. Wenn aber Kursentwicklungen zufällig wären, dann würde sich zum Beispiel auch keine fundamentale Analyse von Aktienunternehmen mehr lohnen. Würde aber kaum noch ein Anleger mehr intensive Unternehmens- und Bilanzanalyse betreiben, wäre auch nicht mehr sichergestellt, dass sich die Wertpapierkurse effizient entwickeln. Das Konzept effizienter Märkte wirkt nicht widerspruchsfrei.
Die verhaltensorientierte Finanzmarktforschung hat mit ihren vielen Beiträgen dazu beigetragen, sogenannte "Finanzmarkt-Anomalien" zu identifizieren, die sich als Abweichungen von den Annahmen der klassischen, rationalen Finanztheorie einstufen lassen und somit die Gültigkeit der Effizienzmarkthypothese erheblich in Frage stellen (siehe Überblick bei Shleifer, 2000). So hat unter anderem Nobelpreisträger Robert Shiller nachgewiesen, dass sich Aktienkurse tatsächlich stärker bewegen, als es fundamentale, rationale Bewertungseinflüsse erwarten lassen. Fisher Black (1986) prägte den Begriff des "Noise"-Tradings, also des Wertpapierhandels von Anlegern ohne fundamentale Auslöser. Ein anderes Finanzmarktphänomen ist die sogenannte Überreaktion (im Englischen bekannt als „Overreaction“). Hinter dem Effekt verbirgt sich eine langfristig erzielbare Über- oder Unterrendite mit Aktienportfolios oder einzelnen Wertpapieren, die sich in der Historie unter- oder überdurchschnittlich entwickelt haben. Auch diese Beobachtungen widersprechen der These vom effizienten Markt, denn historische Informationen dürften sich demnach nicht für profitable Investmentstrategien in der Zukunft ausnutzen lassen. Ein ähnlich gelagerter Effekt ist die Unterreaktion (auf historische Informationen), die auch als Momentum-Anomalie bekannt ist. Diese empirische Beobachtung beschreibt einen mittelfristig anhaltenden Performancetrend, der eine positive Autokorrelation der Renditen und damit eine Prognostizierbarkeit von Kursentwicklungen impliziert. Dieses Kapitalmarkt-Phänomen wurde im Zusammenhang mit unterschiedlichen Ereignissen dokumentiert: unter anderen nach höheren und niedrigen Dividenden- und Gewinnankündigungen, nach Ankündigen von Aktien-Splits, nach Aktienrückkaufen und nach Firmenabspaltungen (siehe Hirshleifer, 2001). Der sogenannte „Size“-Effekt tritt hingegen auf, wenn kleine Aktien-Unternehmen mit geringer Marktkapitalisierung risikoadjustierte Überrenditen erzielen, die nicht mit anderen fundamentalen Faktoren erklärt werden können als durch ihre Größe. Diese Anomalie wurde bereits erstmals im Jahre 1981 durch Banz dokumentiert.
Neben den genannten Finanzmarkt-Anomalien hat die verhaltensorientierte Kapitalmarktforschung noch viele weitere Auffälligkeiten dokumentiert, u.a. zu wiederkehrenden, prognostizierbaren saisonalen Rendite-Mustern (z.B. Januar-Effekt, Wochenend-Effekt). Darüber hinaus liefert sie zu den empirischen Belegen auch theoretische Erklärungen für diese Anomalien. Eines der wichtigsten Konzepte der Behavioral Finance ist dabei das Konzept der kognitiven Verzerrungen („behavioral biases“) oder auch systematische Urteilsfehler, die das menschliche Verhalten im Zusammenhang mit finanziellen Entscheidungen beeinflussen. Diese kognitiven Verzerrungen und Heuristiken können sich auf verschiedene Aspekte des Denkens und Verhaltens auswirken, einschließlich der Art und Weise, wie Menschen Informationen verarbeiten, ihre Risikobereitschaft einschätzen und ihre finanziellen Ziele setzen.
Einige Beispiele für psychologische Verzerrungen und Heuristiken, die in der Behavioral Finance aufgedeckt und untersucht werden, sind:
In der Gothaer Asset Management fließen die neuen Erkenntnisse der Behavioral Finance-Forschung in den Investmentprozess ein, wobei prozessuale und organisatorische Maßnahmen implementiert wurden, um negative Effekte durch kognitive Verzerrungen und systematische Urteilsfehler auf die Anlageperformance zu mitigieren oder zu verhindern:
Dem Anchoring wird entgegengewirkt, indem im Anlageprozess der Gothaer alternative Einschätzungen berücksichtigt werden und bei Prognosen möglichst andere Vorhersagen zunächst ignoriert werden, um das eigene Urteil nicht „zu verankern“. Zudem werden möglichst „harte“, fundamentale Bewertungsmodelle eingesetzt, statt nur auf „weiches“ Sentiment zu setzen. Gegen das Problem der Verlustaversion helfen im Portfolio-Management liquider Wertpapiere konsequente Anlagedisziplin über die Festsetzung vordefinierter Kursziele und die Definition von Risikobudgets, die bei Erreichen automatisch eine Handlung auslösen. Auch die Implementierung eines Limitsystems wirkt dieser Problematik teilweise entgegen. Der systematische Rückschaufehler oder Hindsight Bias führt dazu, dass eigene Anlageurteile falsch reflektiert sowie Prognose- bzw. Entscheidungsfehler wiederholt werden. In der Portfolio-Management-Praxis werden daher Dokumentationen der wesentlichen Entscheidungen und Prognosen angefertigt und intern abgelegt: Die nachträgliche Analyse von Zeitpunkt der Entscheidung, des jeweiligen Datenkranzes und der historischen Interpretation erlauben eine Fehleranalyse und Lerneffekte für zukünftige Entscheidungen.
Die Behavioral Finance bietet auch Einsichten in die Art und Weise, wie Gruppendynamik und soziale Einflüsse das finanzielle Verhalten von Individuen beeinflussen können. Zum Beispiel wurde eine Herdenmentalität nachgewiesen, wonach Anleger dazu neigen, die gleichen Investment-Entscheidungen zu treffen, die andere Investoren bereits vor ihnen getroffen haben. Gerade Entscheidungen von Gruppen sind oft noch in stärkerem Maße von psychologischen und sozialen Verzerrungen tangiert als bei Einzelpersonen. Daher werden in bestimmten Investmentprozessen der Gothaer Asset Management geheime Abstimmungen und Prognosen abgegeben, die dann von einem Moderator aggregiert werden. Idealerweise wird ein „Teufels Advokat“ eingesetzt, der die jeweiligen Urteile individuell mit Pro und Contra vorstellt und kritisch hinterfragt. Damit wird verhindert, dass Einzelne die Gruppenentscheidungen dominieren und andere sich erst gar nicht zu Wort melden.
Insgesamt hat die Behavioral Finance dazu beigetragen, das Verständnis der menschlichen Entscheidungsfindung auf den Finanzmärkten zu verbessern und hat zu einer Reihe von praktischen Anwendungen geführt, wie zum Beispiel der Entwicklung von Anlagestrategien, die auf die Verzerrungen von Investoren reagieren, oder der Verbesserung von Finanzdienstleistungen, indem man auf die spezifischen Bedürfnisse und Vorlieben von Kunden eingeht sowie der Optimierung bei der prozessual-organisatorischen Strukturierung von Investmententscheidungen, wie oben für die Gothaer Asset Management beschrieben.
Die Behavioral Finance ist jedoch auch Gegenstand von Kritik gewesen, da einige der Ergebnisse der Forschung als widersprüchlich oder schwer zu replizieren angesehen werden. Zudem gibt es auch die Frage, ob die Behavioral Finance tatsächlich in der Lage ist, die komplexen Dynamiken von Finanzmärkten vollständig zu erklären. In der Gothaer verfolgen wir daher auch weiterhin neuere wissenschaftliche Erkenntnisse, die uns helfen, das zunehmend komplexere Marktumfeld im Interesse unserer Anleger besser verstehen und managen zu können.
*Die bahnbrechende „Prospect Theory“ der beiden Psychologen Kahnemann und Tversky (1979), die diese Erkenntnisse produzierte, gilt als realistischere Erwartungsnutzentheorie als die traditionell-neoklassische mit der heroischen Annahme des perfekten Homo oeconomicus. Kahnemann erhielt für seine Forschungen 2002 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Tversky verstarb bereits 1996.
Literatur:
Banz, R., (1981), The Relationship Between Return and Market Value of Common Stock, Journal of Financial Economics 9, S. 3-18.
Black, F. (1986), Noise, in: The Journal of Finance, 41, S. 529-543
Fama, E. (1970): Efficient Capital Markets. A Review of Theory and Empirical Work, In: The Journal of Finance. 25, S. 383–417;
Hirshleifer, D., 2001, Investor Psychology and Asset Pricing, Journal of Finance 56, S. 1533-1597.
Kahneman, D. und A. Tversky, 1979, Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk, Econometrica 47, S. 263-291.
Shleifer, A., (2000), Inefficient Markets, Oxford University Press: Oxford.1
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02.01.2023
Von: Dr. Klaus-Michael Menz
Vor wenigen Wochen gingen zwei bedeutsame internationale Konferenzen der Vereinten Nationen zum Klimawandel und zur Artenvielfalt zu Ende, die zu teilweise bahnbrechenden Ergebnissen führten.
Die 27. Klimakonferenz der Vereinten Nationen (United Nations; UN) fand im vergangenen November im ägyptischen Tourismuszentrum Scharm asch-Schaich am Roten Meer statt. An dieser Konferenz, die in der internationalen Presse meist mit dem Kürzel COP27 in den Schlagzeilen war, nahmen mehr als 20.000 Delegierte aus über 190 Staaten teil. Dabei steht COP27 für „ 27th Conference of the Parties“, also der 27. Tagung der Vertragsstaaten der UN-Klimarahmenkonvention. Angesichts des fortscheitenden Klimawandels sprach der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, in seiner Rede in sehr drastischen Worten aus, was Wissenschaftler schon seit langer Zeit als Warnung aussenden: „Die Menschheit setze ihr Überleben auf Spiel, wenn sie nicht mehr Klimaschutz betreibe. Die Menschheit befinde sich auf dem Highway zur Klimahölle, habe aber den Fuß immer noch auf dem Gaspedal“. Tatsächlich zeigten diese und andere Warnungen teilweise Wirkung, denn in einer historisch zu nennenden Erklärung übernahmen die reicheren Industriestaaten erstmals Mitverantwortung für die steigenden Erdtemperaturen, die in den Entwicklungsländern zu verstärkten Schäden durch den menschgemachten Klimawandel führten und in Zukunft verstärkt führen werden. Die Industriestaaten werden deshalb einen Fonds auflegen und finanzieren, der die Entwicklungsländer für diese Schäden kompensieren soll und ihnen bei der Finanzierung des Kampfes gegen den Klimawandel helfen soll.
Im Dezember 2022 folgte dieser historischen UN-Klimatagung ein nicht weniger wichtiges Ereignis, nämlich die 15. Konferenz der Vertragsstaaten der UN-Konvention zur biologischen Diversität in der kanadischen Metropole Montreal, die im Englischen auch als COP15 abgekürzt wird (15th Conference of the Parties to the UN Convention on Biological Diversity). Die große Gefahr eines zunehmenden Aussterbens von Pflanzen und Tierarten weltweit veranlassten über 190 Nationen dazu, sich auf den Schutz und Wiederherstellung von mindestens 30% der globalen Land- und Wasserflächen bis zum Jahre 2030 zu verständigen. Ähnlich wie bei der UN-Klimakonferenz, verpflichteten sich die reicheren Industrieländer dazu, bis 2030 jährlich rund 20-30 Milliarden Dollar an ärmere Entwicklungsländer durch einen neuen Biodiversitätsfonds zu zahlen, um ihrer Mitverantwortung für die Erderwärmung gerecht zu werden und den armen Staaten, in denen der Klimawandel mit deren Begleiterscheinungen noch viel dramatischer spürbar wird, einen finanziellen Spielraum bei der Bekämpfung des fortschreitenden Verlust an biologischer Vielfalt zu ermöglichen. Darüber hinaus wurde mit COP15 ein umfassender Maßnahmenkatalog verabschiedet (siehe CBD, 2022). Kanadas Umweltminister Steven Guilbeault als Gastgeber der Konferenz verglich die getroffene Vereinbarung mit dem historischen Meilenstein des Pariser Klimaschutzabkommens aus dem Jahre 2015, in dem sich die Länder verpflichteten, den globalen Temperaturanstieg im Vergleich zur vorindustriellen Basis auf unter 2 Grad Celsius und idealerweise näher bis 1,5 C zu begrenzen.
Den Reigen bahnbrechender Abkommen komplettierte die Europäische Union vor wenigen Wochen, als sich das EU-Parlament und die EU-Mitgliedstaaten darauf einigten, verbindliche Regeln für Unternehmen festzulegen, die Palmöl, Rindfleisch, Holz, Kaffee, Kakao, Kautschuk und Soja importieren und verkaufen, um sicherzustellen, dass diese Produkte nicht von Ländereien und Böden stammen, die vorher Opfer von großflächiger Abholzung von natürlichen Wäldern waren.
Alle drei multilateralen Vereinbarungen ist letztlich die ultimative Erkenntnis gemeinsam, dass die Natur das größte kollektive Gut ist, mit der die Menschheit im Zeitalter des Anthropozäns* zu verschwenderisch und leider auch zu zerstörerisch umgeht. Dabei gehen Schätzungen davon aus, dass rund 50% der globalen Wirtschaftsleistung gemessen am Bruttoinlandsprodukt mittel- oder unmittelbar von der Natur abhängen (siehe World Economic Forum und PwC, 2020). Die Natur repräsentiert somit ein immenses Kapital.**
Um dieses verlorenes Naturkapital wiederherzustellen und bestehendes für zukünftige Generationen zu schützen, werden in den nächsten Jahren auch viele Milliarden an privaten Investitionsgeldern erforderlich sein. So werden nach jüngsten Schätzungen der Naturschutzorganisation The Nature Conservancy in Zusammenarbeit mit dem Paulson Institute und dem Cornell Atkinson Center for Sustainability (2021) jährlich global zusätzlich zwischen 598-824 Mrd. USD benötigt, um allein dem Verlust biologischer Diversität entgegenzuwirken. Auch wenn große Teil dieser Mittel demnach allein durch staatliche Maßnahmen (z.B. durch Abbau schädlicher Subventionen und Anreize) generiert werden können, werden zusätzliche private Investitionen in Naturkapital zwingend erforderlich sein.
Naturkapitalinvestitionen sollen auf die Erhaltung und Wiederherstellung natürlicher Ressourcen wie Wälder, natürliche Böden, Feuchtgebiete, Moore und anderer Ökosysteme abzielen. Diese Investitionen können auf verschiedene Weise getätigt werden, einschließlich Direktinvestitionen in Naturkapitalanlagen (z.B. durch den Erwerb von Wäldern oder landwirtschaftlicher Nutzflächen), Investitionen in Unternehmen, die auf Naturkapitalmanagement spezialisiert sind, oder Investitionen in spezialisierten Fonds, die sich auf die Investition in Naturkapital konzentrieren.
Investitionen in Naturkapital können ein breites Spektrum positiver Auswirkungen haben, und zwar von gesteigerter Wirtschaftstätigkeit in den jeweiligen Investitionsregionen bis hin zu einer verbesserten Umweltgesundheit. Diese Investitionen können vor Ort Arbeitsplätze schaffen und die lokale Wirtschaft ankurbeln, während sie insbesondere dazu beitragen, natürliche Ressourcen zu schützen und wiederherzustellen. Sie können vor allem dabei helfen, die Auswirkungen des Klimawandels zu verringern, indem sie Ökosysteme erhalten und wiederherstellen, was auch dazu beitragen kann, die Auswirkungen extremer Wetterereignisse abzumildern. Darüber hinaus können Investitionen in Naturkapital dazu beitragen, die Wasserqualität zu verbessern, die ländliche Bodenerosion zu verringern und die biologische Artenvielfalt zu schützen. Schließlich können diese Investitionen dazu beitragen, eine widerstandsfähigere und nachhaltigere Gesellschaft zu schaffen, indem sie den Zugang zu sauberer Luft, Wasser und Nahrung ermöglichen. Insbesondere das Thema Nahrung ist im Zusammenhang mit Naturkapitalinvestitionen von essentieller Bedeutung. Denn eine der größten globalen Herausforderungen, neben der Bremsung des Klimawandels und des Verlusts der Biodiversität, ist die Bekämpfung des Hungers*** weltweit. Dabei steht die Landwirtschaft nach Schätzungen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen vor der immensen Herausforderung, die Produktion gegenüber 2005 um 60–100% steigern zu müssen, um eine wachsende Weltbevölkerung bis 2050 zu ernähren zu können (Alexandratos und Bruinsma, 2012). Gleichzeitig gilt die moderne, intensive Landwirtschaft auch als eine Hauptquelle für negative Auswirkungen auf unsere Natur. Beispielsweise wird die Lebensmittelproduktion mit bis zu 30% der globalen Treibhausgasemissionen und 70% des Süßwasserverbrauchs in Verbindung gebracht, und die Landwirtschaft gilt auch als Hauptursache für das Artensterben (Willett et al., 2019). Eine umweltschonendere, nachhaltige Landwirtschaft ist also zwingend für die die Erreichung der Nachhaltigkeitsziele erforderlich und wird zudem zusätzlich massive Naturkapitalinvestitionen in mehrstelliger Milliardenhöhe erfordern (Donckt und Chan, 2019).
Neben den genannten messbaren Vorteilen für die Umwelt und Gesellschaft können Investitionen in Naturkapital für die Anleger auch attraktive finanzielle Renditen erwirtschaften. Beispielsweise können Anlagen in Wälder durch Holzernten, Kohlenstoffbindung (CO2-Absorption, die sogenannte "Carbon Credits" erzeugen) und andere Ökosystemdienstleistungen finanzielle Erträge erzielen. Bei Anlagen in die Landwirtschaft können Investoren neben den typischen Einnahmen aus der agrikulturellen Bewirtschaftung (regelmäßige Ernteerträge) auch von einer Verbesserung von Umwelt-Aspekten wie Biodiversität, CO2-Bindung in den Böden und Wasserqualität profitieren. Hierdurch kann nämlich eine zusätzliche Wertschöpfung, insbesondere durch die Steigerung von Bodenwerten und die Zertifizierung und Monetarisierung von CO2-Bindung, erzielt werden. Schließlich können Investitionen in die Regeneration von Feuchtgebieten und Moore durch Wasserfilterung, Hochwasserschutz und andere Dienstleistungen fallweise Erträge generieren.
Investitionen in Naturkapital haben neben dem positiven Beitrag zu den genannten globalen Nachhaltigkeitsinitiativen auch den Vorteil, dass Anleger ihre Investment-Portfolios in relativ neue Anlageklassen diversifizieren können, die mit traditionellen Wertpapieren und liquiden Finanzinstrumenten nur geringfügig korreliert sind. Zudem können Investments in Naturkapitalien offenbar auch den Anleger besser gegenüber der Geldentwertung durch die Inflation schützen (siehe Manulife, 2022). Anlagen in Naturkapital erfüllen in der Regel auch die strengen Anforderungen an ein sogenanntes „Impact Investment“, welches gemäß der Definition des Global Impact Investing Network (GIIN, 2019) Investitionen charakterisiert, die mit der Absicht getätigt werden, neben einer finanziellen Rendite auch positive, messbare soziale und ökologische Auswirkungen zu erzielen.
Angesichts der immensen Bedeutung von Naturkapital zur Begegnung der diskutierten globalen Herausforderungen und der überzeugenden Anlagevorteile für Investoren, darf allerdings nicht verschwiegen werden, dass Investitionen in Naturkapital mit etlichen Risiken und praktischen Problemen verbunden sind.Investitionen in Naturkapital können nämlich schwierig zu bewerten und genau zu messen sein. Es mangelt immer noch an geeigneten Methodologien, Bewertungsansätzen und vor allem an detaillierten historischen Daten (Cojoianu et al., 2015). Investitionen in Naturkapital können riskant sein, da sie den „Launen“ von Natur, der Umwelt und des Klimawandels unterliegen. Investitionen in Naturkapital können teuer sein und erfordern erhebliche Vorabinvestitionen, bis sie oft erst nach vielen Jahren erste Erträge abwerfen. Zudem bieten Investitionen in Naturkapital möglicherweise nicht die gleichen Renditen wie traditionelle Kapitalanlagen. Tatsächlich gibt es sogar die vermehrt die Ansicht, dass es wirksames, „echtes“ „Impact Investing“ nur geben kann, wenn der Investoren bereit sind, zugunsten positiver sozialer und ökologischer Auswirkungen explizit auf Rendite zu verzichten (Born und Brest, 2013).**** Anleger sollten sich also darüber im Klaren sein, dass Investitionen in Naturkapital riskant sein können und sorgfältige Recherchen und Due Diligence erfordern. Darüber hinaus können Investitionen in Naturkapital regulatorischen und gesetzlichen Beschränkungen unterliegen, die sich auf die potenziellen Renditen auswirken können.
Und dennoch: Der fortschreitende Klimawandel und der Verlust an Biodiversität erfordern kollektives Handeln. Und zwar jetzt. Nicht erst irgendwann, wenn ausreichend Erfahrungen und Daten über Investitionen in Naturkapitalien vorliegen. Doch dazu passt das Motto der Gothaer: „Zukunft wird aus Mut gemacht“. Deshalb wird die Gothaer auch verstärkt in Naturkapital investieren. Die erste Zusage für ein solches Investment im dreistelligen Millionen-Bereich wurde bereits im Dezember 2022 abgegeben. In Zusammenarbeit mit Climate Asset Management, dem Joint Venture zwischen HSBC Asset Management und Pollination, investieren wir in nachhaltige Investments, sogenannte Impact Investments, die einen positiven Nachhaltigkeitsbeitrag leisten. Dabei stehen die CO2-Reduktion und die Steigerung der Biodiversität im Fokus. Mit der Umwandlung von Flächen in nachhaltige Land- und Forstwirtschaft, gehen wir den ersten Schritt und reduzieren nicht nur vorhandene CO2-Emissionen, sondern schaffen einen positiven Beitrag zur Biodiversität durch neue oder aufbereitete Flächen“, so Christof Kessler, Vorstandssprecher der Gothaer Asset Management AG.
*Der Begriff stammt von dem Nobelpreisträger in Chemie, Paul Crutzen (2002), und charakterisiert das Zeitalter seit dem Beginn der industriellen Revolution, in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist.
**In den modernen Wachstums- und Konjunkturtheorien spielt der Faktor Natur allerdings bislang nahezu keine Rolle. Dort sind die Treiber und Faktoren der wirtschaftlichen Entwicklung vor allem Geldkapital für private und staatliche Investitionen, Humankapital in Form der menschlichen Arbeitsleistung und der technische Fortschritt. Nobelpreisträger William D. Nordhaus war einer der ersten Ökonomen, der Umweltfaktoren in die ökonomische Analyse intergierte und die Einführung von CO2-Preisen thematisierte.
***Die Bekämpfung des Hungers („Zero Hunger“) ist eines der prioritären Ziele der Nachhaltigkeitsagenda der Vereinten Nationen, die aus 17 verschiedenen Zielen und 169 verschieden Zielvorgaben besteht. (siehe https://sdgs.un.org/)
****Im angelsächsischen Sprachraum hat sich dafür der Begriff „Concessionary Investment“ eingebürgert und definiert einen Investmentertrag unterhalb der vergleichbaren Marktrendite.
Literatur:
Alexandratos, N. und Bruinsma, J., (2012), World agriculture towards 2030/2050: The 2012 revision (No. 12-03), ESA Working Paper. Food and Agriculture Organization of the United Nations, Rome.
Born, K. und Brest, P. (2013), Unpacking the Impact in Impact Investing, Stanford Social Innovation Review. https://doi.org/10.48558/7X1Y-MF25
CBD (2022), COP15: Nations Adopt Four Goals, 23 Targets for 2030 In Landmark UN Biodiversity Agreement, Press Release. https://www.cbd.int/article/cop15-cbd-press-release-final-19dec2022
Cojoianu, T.F., Hoepner, A.G.F., Rajagopalan, R.D., Borth, D.S., (2015), Towards including natural resource risks in cost of capital: State of play and the way forward. Natural Capital Declaration, Oxford.
Crutzen, Paul (2002), Geology of mankind, Nature 415, 23. https://doi.org/10.1038/415023a
Donckt, M. und Chan, P., (2019), The new FAO global database on agriculture investment and capital stock (No. 19–16), FAO Statistics Working Paper. Food and Agriculture Organization of the United Nations, Rome.
Global Impact Investing Network (GIIN, 2019), What You Need to Know about Impact Investing, https://thegiin.org/impact-investing/need-to-know/#what-is-impact-investing.
Manulife Investment Management (2022), Navigating rising inflation and interest rates with agricultural investments, April 13, Report.
The Nature Conservancy, Paulson Institute und Cornell Atkinson Center for Sustainability (2021), “Financing Nature: Closing the Global Biodiversity Financing Gap”, Joint Report.
Willet, et al, (2019), Food in the Anthropocene: the EAT–Lancet Commission on healthy diets from sustainable food systems. Lancet 393 (10170), 447–492. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(18)31788-4.
World Economic Forum und PwC, (2020), Nature Risk Rising: Why the Crisis Engulfing Nature Matters for Business and the Economy, Joint Report.
Hinweis
Dieses Dokument ist kein vertraglich bindendes Dokument, sondern wurde von der Gothaer Asset Management AG ausschließlich zu allgemeinen Informationszwecken erstellt. Die enthaltenen Informationen sind allgemein und unverbindlich und stellen keine Handlungsempfehlung oder Finanzanalyse dar. Die Angaben ersetzen weder die individuelle Anlageberatung durch eine Bank/einen Vertriebspartner noch den fachkundigen steuerlichen oder rechtlichen Rat. In dieser Publikation enthaltene Meinungen, Prognosen, Angaben und Analysen geben die aktuellen Einschätzungen und Erwartungen der Gothaer Asset Management AG hinsichtlich der Markt- und Branchenentwicklung wieder, die ohne vorherige Ankündigung geändert werden können. Trotz sorgfältiger Auswahl der Quellen und Prüfung der Inhalte übernimmt die Gothaer Asset Management AG keine Haftung oder Garantie für die Richtigkeit und Vollständigkeit der in dieser Publikation enthaltenen Informationen. Stand aller Informationen, Darstellungen und Erläuterungen ist der 02.01.2023 soweit nicht anders angegeben.Eine Zusammenfassung der Anlegerrechte in deutscher Sprache ist auf www.goam.de/beschwerdemanagement zu finden.
Herausgegeben von Gothaer Asset Management AG, Arnoldiplatz 1, 50969 Köln, Germany, HRB 55099
30.12.2022
Von: Marius Gero Daheim
Steuerpflichtige US Kommunalobligationen (Taxable Municipals, kurz „Munis“) sind bereits seit vielen Jahren ein wichtiger Baustein in der Kapitalanlagestrategie der Gothaer Asset Management AG (GoAM). Als Anlageklasse im US-Zinsuniversum vereinen Munis die Vorteile guter Bonität, langer Laufzeiten (besonders wichtig für Lebensversicherungen), einer relativ stabilen Kurs- bzw. Spreadentwicklung sowie einer attraktiven Verzinsung (verglichen mit US-Unternehmensanleihen) - bei insgesamt guter Marktliquidität. Die GoAM hält einen substanziellen Anteil Ihrer Zinsanlagen in dieser Assetklasse - verteilt auf drei externe, Risikokapital-optimierte Mandate mit unterschiedlichen Investmentstilen, wobei das Währungsrisiko jeweils abgesichert wird.
Munis haben im Zeitraum 2011 bis 2022 einen jährlichen Gesamtertrag von durchschnittlich 2,3% erbracht. Zum Vergleich: US Investment Grade-Unternehmensanleihen lieferten im gleichen Zeitraum nur 1,5% Gesamtertrag ab. Vor dem Hintergrund des seit 2021 weltweit erfolgten Inflationsschubes und des dadurch ausgelösten Zinsschocks haben Fixed Income Assets insgesamt im abgelaufenen Jahr sehr schlecht abgeschnitten. Munis erlitten vor allem wegen der extrem langen durchschnittlichen Restlaufzeit von ca. 12 Jahren in 2022 einen überproportionalen Verlust von -19%. Spiegelbildlich könnte 2023 aber ein ertragsstarkes Jahr für diese Assetklasse werden, falls sich in den USA Konjunktur, Geldpolitik und Finanzmärkte gemäß dem folgenden, vielerorts erwarteten Szenario entwickeln:
Die skizzierten Rahmenbedingungen sprechen u. E. insgesamt für im Jahresverlauf 2023 unveränderte oder sogar leicht sinkende US Langfrist-Renditen bei einer zumindest unverändert inversen US Treasury-Renditestruktur. Sofern die Zinsstrukturkurve für Munis diesen Vorgaben folgt, ist für diese Assetklasse damit u.a. wegen ihrer extrem langen Duration eine relativ günstige Ertragsentwicklung vorgezeichnet.
Wenngleich der Inflationsschub 2021/22 die Kostensituation vieler US-Kommunalunternehmen belastet, stehen dem aber auf der Einnahmeseite entsprechende Zuwächse bei Gebühren und Abgaben entgegen, sodass sich die Verschuldungslage bzw. Bonitätseinschätzung für den Sektor insgesamt nicht verschlechtert haben sollte. Dies spricht für die „Resilienz“ der Muni-Spreads im Falle einer zyklischen Ausweitung der Spreads von US Unternehmensanleihen.
Einen weiteren, längerfristigen (1-3 Jahres-Sicht) Positivfaktor stellt die absehbare Zunahme des Investoreninteresses an dieser Assetklasse dar. Hintergrund hierfür ist der „Financial Data Transparency Act of 2022“, der am 23.12.2022 vom US Kongress verabschiedet wurde. Dieses Gesetz schafft einen neuen elektronischen Berichtsstandard für kommunale Emittenten/Schuldner. Es wird nach Auffassung von Marktbeobachtern* die Transparenz in diesem sehr granularen und heterogenen Markt deutlich verbessern, die Markteffizienz (Preisfindung, Liquidität) erhöhen, den Marktzugang neuer Investorengruppen fördern und der Assetklasse einen zusätzlichen Nachfrageschub verleihen.
Angesichts unserer konstruktiven Einschätzung der „Steuerpflichtigen US Kommunalobligationen“ möchten wir Ihnen mit der beigefügten Publikation des spezialisierten Asset Managers MacKay Shields Municipal Managers einen Überblick über die Assetklasse, ihre Charakteristika, Marktchancen und -risiken geben.
*Vgl. Morgan Stanley „Municipal Strategy & Public Policy | North America” vom 08.12.2022: “The act mandates standardized, machine-readable financial disclosures for most issuers in the $4T muni market. (…) We think the act will let muni investors' credit screening abilities catch up to the corporate market. In particular, we expect: 1. Accelerated adoption of rules-based credit analysis; 2. Lower costs and greater economies of scale for separately managed accounts; and 3. Improved market liquidity for small issuers.”
Hinweis
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28.09.2022
Von: Teammitglieder Liquid Assets
Seit die Inflationsraten in den USA und Europa im Frühjahr 2021 die Schwelle von zwei Prozent überschritten haben, verfolgen Marktteilnehmer, Ökonomen und Zentralbanken die monatlichen Berichte von der Preisfront mit wachsender Nervosität. Im Laufe des zweiten Halbjahres wurde immer offensichtlicher, dass die ursprüngliche Einschätzung des Inflationsschubs als “transitorisch“ falsch war. Denn wäre dieser allein durch Basiseffekte im Zusammenhang mit der weltweiten COVID-Rezession 2020 getrieben gewesen, hätte er spätestens im Juli (USA) bzw. September (Deutschland, Euroraum) 2021 enden und die monatlichen Inflationsraten von den seinerzeit erreichten Niveaus um 5% allmählich sinken müssen.
Abbildung 1: Inflationsraten im Vergleich (Quelle: Eigene Darstellung, Bloomberg, Juni 2022)
Ebenso verfehlt wie die Diagnose war die hierauf basierte Entscheidung der Geldpolitik, durch den vermeintlichen „Inflationsbuckel“ hindurchzusehen und auf Gegenmaßnahmen zu verzichten. Ende 2021 zogen die Bank of England und die US Federal Reserve als erste Notenbanken die Konsequenz aus dieser Einsicht und schalteten in den Inflationsbekämpfungs-Modus um. Zahlreiche Notenbanken weltweit haben inzwischen ebenfalls ihren Kurs in Richtung einer strafferen Geldpolitik geändert; als eine der letzten großen Zentralbanken hat im Juni nun auch die EZB eine Leitzinswende angekündigt.
Obwohl die bisherigen Reaktionen der Notenbanken bereits zu einer deutlichen Rückbildung der marktbasierten Inflationserwartungen geführt haben, setzte sich die Beschleunigung der Inflation bis zuletzt weitgehend ungebremst fort. Getrieben wird die Preisdynamik von
Auf den vorgelagerten Preisstufen - den Import- und Erzeugerpreisen - bleibt der Preisdruck auch am aktuellen Rand extrem hoch und zwingt Unternehmen immer stärker, ihre Kostensteigerungen auf die Endverbraucher zu überwälzen. Wie die folgende Grafik zeigt, findet diese Preisüberwälzung in Deutschland derzeit in weit stärkerem Maße statt als in früheren Inflationszyklen, so dass die Verbraucherpreis-Inflation inzwischen aus ihrer langjährigen Bandbreite von -1 bis +4% nach oben ausgebrochen ist. Dennoch: Die extreme Spreizung zwischen Erzeugerpreis- und Verbraucherpreis-Inflation impliziert, dass der Druck auf die Unternehmensgewinne höher denn je zuvor ist.
Abbildung 2: Deutschland: Import-, Erzeuger- und Verbraucherpreise (Quelle: Eigene Darstellung, Bloomberg, Juni 2022)
Während zu Beginn der Entwicklung vor allem die Verteuerung von Energie als Inflationstreiber wirkte, weitete sich der Teuerungsdruck im weiteren Verlauf auf vielfältige andere Waren und Dienstleistungen aus, für deren Herstellung und Transport Energie ein relevanter Kostenfaktor ist. Beispielsweise verteuerte sich beispielsweise die Produktion von Kunstdünger (bei der Erdgas ein wichtiger Produktionsfaktor ist) so stark, dass Dünger-Hersteller die Fertigung zeitweise mangels Rentabilität einstellten. Die resultierende Angebotsverknappung wiederum wirkte in der Landwirtschaft sowohl kostensteigernd als auch ertragsmindernd, wodurch im nächsten Schritt auch Lebensmittelpreise unter Aufwärtsdruck gerieten. Ein zweites Beispiel sind die extremen Preissteigerungen bei den energieintensiven Industriemetallen Stahl und Aluminium, die zu starken Kostensteigerungen u.a. in der Bauindustrie und dem Fahrzeugbau führten.
Abbildung 3: CRB Rohstoffpreis-Index und Subindizes (Quelle: Eigene Darstellung, Bloomberg, Juni 2022)
Unsere Analyse des deutschen Verbraucherpreis-Indexes zeigt, dass der Preisdruck im Vergleich zum Zeitraum 2017-2021 stark zugenommen und inzwischen die Mehrzahl der im Warenkorb enthaltenen Gütergruppen erfasst hat: Acht der zwölf Subindizes wiesen im April „überhöhte“ Teuerungsraten auf (d.h. Inflationsraten über 2,5% - in der untenstehenden Grafik rot markiert). Auffällig ist dabei, dass die höchsten Teuerungsraten in den Energiekosten-intensiven Bereichen „Verkehr“ und „Wohnung“ ausgewiesen werden - den beiden Gütergruppen mit den höchsten Gewichtsanteilen (zusammen ca. 45% des Gesamtindexes). Dies unterstreicht die zentrale Rolle der Energiepreise für die Inflationsdynamik. Ebenfalls deutlich überhöht im Vergleich der letzten fünf Jahre erscheint die Teuerungsrate in dem mit knapp 10% gewichteten Bereich „Nahrungsmittel“.
Um eine Schätzung der Inflationsentwicklung nach Warengruppen für die Jahre 2022-2024 zu erhalten, haben wir die Preistrends der letzten fünf Jahre nach vorne projiziert. Wir gelangen so zu der Erwartung eines allmählich abebbenden Teuerungsdrucks bzw. einer Halbierung der Jahresinflation im Jahr 2024 gegenüber 2022. Dabei fällt die Anzahl der Warengruppen mit Inflationsraten über 2,5% von sieben auf fünf. Damit wäre der Preisdruck allerdings immer noch deutlich breiter gelagert als im Zeitraum 2017-2021, als nur zwei der zwölf Subindizes eine Jahresteuerung über 2,5% auswiesen.
Abbildung 4: Deutschland Vebraucherpreisindex (Quelle: Eigene Darstellung, Bloomberg, Juni 2022)
Das Ergebnis unserer Analyse wird dabei maßgeblich von dem gewählten Prognoseansatz bestimmt. Da wir für die Prognose der Inflation den drei Jahren 2022-2024 die Preistrends der jeweils vorhergehenden fünf Jahre heranziehen, wird die Prognose 2022 noch von den vier „Niedriginflations“-Jahren 2017-2020 geprägt. Dagegen fallen bei der Prognose für 2024 die Preistrends der „Hochinflations“-Jahre 2021-2023 stärker ins Gewicht.
Ein wichtiger Einflussfaktor für die längerfristige Inflationsdynamik ist die Lohnentwicklung. Sie könnte im ungünstigsten Falle in einer Lohn-Preis-Spirale münden, in der sich die Lohnzuwächse dauerhaft vom Wachstum der Arbeitsproduktivität abkoppeln und die resultierenden Kostensteigerungen von Unternehmen auf die Absatzpreise überwälzt werden. Dies wäre für die Notenbanken das „die Lohnkostensteigerungen worst case“-Szenario, da sie dann einen so restriktiven Kurs einschlagen müssten, dass die Wirtschaft in eine Rezession fiele. Die damit verbundenen hohen wirtschaftlichen und sozialen Kosten gilt es möglichst zu vermeiden. Erforderlich ist hierfür allerdings frühzeitiges und entschlossenes Handeln der Geldpolitik, das eine Entankerung der Inflationserwartungen verhindert.
Abbildung 5: Lohnkosten: USA vs. Euroraum (Quelle: Eigene Darstellung, Bloomberg, Juni 2022)
Vergleicht man in Abbildung 5 die Lohndynamik in den USA und im Euroraum, so erkennt man, dass die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale in den USA mit einem Lohnwachstum von ca. 4,5% im ersten Quartal 2022 etwas höher ist als im Euroraum, wo die durchschnittlichen Tariflöhne zuletzt um 2,8% gestiegen sind. Aber auch hier ist eine deutliche Beschleunigung des Lohnwachstums gegenüber dem Vorquartal erkennbar, die sich - angesichts der Signale von laufenden und bevorstehenden Tarifverhandlungen - in den kommenden Quartalen fortsetzen dürfte. Gerade weil die Geldpolitik durch ihre Fehleinschätzung der Inflation als „transitorisch“ ins Hintertreffen geraten war, muss sie nun umso schneller agieren, um wieder „vor die Kurve“ zu kommen – mit „großen“ Zinsschritten um 50 oder sogar 75 Basispunkte, wie aktuell für die Fed erwartet.
Ein beschleunigter Lohnanstieg in einer Größenordnung von 3,5-4,5% ist für 2022 absehbar, ebenso wie eine daraus resultierende Lohnkosten-Überwälzung, die den Inflationsgipfel im Euroraum in Richtung Jahresende verlagern dürfte. Die Lohnsteigerungen im kommenden Jahr dürften etwas niedriger als 2022 ausfallen. Sofern keine neuen Inflationsimpulse von anderer Seite eintreten, könnte daher die Lohnentwicklung den grundsätzlich erwartbaren Rückgang der Inflationsraten zwar bremsen, würde ihn aber nicht umkehren.
Wie sind die langfristigen Perspektiven für die Inflation? - Die meisten der derzeitigen Inflations-Treiber - siehe unsere Aufzählung oben - sind weder strukturell noch system-immanent. Insofern erscheint grundsätzlich die Erwartung berechtigt, dass die aktuellen Preissignale im Zeitablauf
Die entscheidende Frage ist also nicht ob, sondern wann die Teuerung wieder ihren mittelfristigen Zielwert von zwei Prozent erreichen wird.
Einen Hinweis hierfür liefern die Kapitalmärkte mit ihrer Bepreisung inflationsbesicherter Anleihen. Die sogenannte „Breakeven“-Inflation, berechnet als Differenz zwischen der Rendite einer konventionellen Festzins-Anleihe und der Rendite einer inflationsbesicherten Anleihen mit sonst gleichen Ausstattungsmerkmalen, lässt sich als durchschnittliche Inflationserwartung der Marktteilnehmer über die Laufzeit der betrachteten Anleihen interpretieren. Vergleicht man die Breakeven-Inflation für Anleihen mit unterschiedlich langen Laufzeiten, kann man daraus ein Verlaufsprofil für die erwartete Inflation ableiten. Wie Abbildung 6 zeigt, erwarten die Marktteilnehmer zurzeit auf Sicht der nächsten zwei Jahre etwa 4,7% Inflation, auf Sicht von fünf Jahren 3% und auf Sicht von zehn Jahren ca. 2,4% Inflation.*
* Datenquelle: Bloomberg. Die generischen Breakeven-Inflationsraten entsprechen nicht exakt der von Bloomberg genannten Laufzeit. Die aktuell ausstehenden (und von Bloomberg zur Berechnung verwendeten) inflationsgesicherten Bundesanleihen haben Restlaufzeiten von 0,8 Jahren, 3,8 Jahren bzw. 10,8 Jahren.
Abbildung 6: Breakeven-Inflation von Bundesanleihen nach Restlaufzeit (Quelle: Eigene Darstellung, Bloomberg, Juni 2022)
Der Blick nach vorne
Der erneute Anstieg der Inflation in den USA und Euroraum im Mai hat gezeigt, dass die genannten Inflationstreiber weiterhin wirksam sind und der Inflationsgipfel daher wohl immer noch vor uns liegt. Die erkennbare Bremsung der Wirtschaft, v.a. des privaten Konsums durch die eingetretenen Kaufkraft-Verluste, spricht zwar dafür, dass der Höhepunkt der Teuerungswelle bald überschritten werden könnte. Andererseits steht dem Euroraum aber eine Beschleunigung des Lohnanstieges erst noch bevor; dies dürfe den Inflationsanstieg nochmals verstärken und verlängern.
Die von Fed und EZB avisierte Straffung der Geldpolitik wird wegen der zunehmenden Konjunkturgefahren immer mehr zu einer Gratwanderung. Wir trauen der US Notenbank zu, ihren Leitzins zumindest eine Zeitlang auf ein restriktives Niveau (Fed Funds: 3,25-3,75 %) zu erhöhen und notfalls eine Rezession zu tolerieren, um der Inflation das Rückgrat zu brechen. Dagegen hegen wir eine gewisse Skepsis, ob die EZB den Kampf gegen die Inflation mit der gleichen Entschlossenheit führen wird wie in den letzten Jahren gegen die Deflation. Ihre Leitzinserhöhungen dürften lediglich auf ein „neutrales“ Zinsniveau (Einlagensatz: 1,25-1,5 %) führen.
Eine Rückkehr der Hochinflations-Ära der Siebziger Jahre ist unseres Erachtens unwahrscheinlich angesichts der deutlich veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen (u.a. weltweit integrierte Finanz- und Gütermärkte, verringerte gewerkschaftliche Verhandlungsmacht, Aufgabe der Lohnindexierung). Wenngleich die Langfrist-Trends Deglobalisierung, Dekarbonisierung und demografischer Wandel per Saldo eine Rückkehr zu der Niedriginflation der letzten 20 Jahre verhindern dürften, wird als ein inflationsdämpfendes Gegengewicht die Digitalisierung wirksam bleiben.
Hinweis
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Oktober 2024
Von: Marius Gero Daheim
Angesichts der radikal unterschiedlichen politischen Profile von Harris und Trump sind die Wahlen in den USA unbestreitbar eine Weichenstellung mit weitreichenden innen- und weltpolitischen Folgen. Da sich die Kandidaten bis zum letzten Tag ein extrem enges Kopf-an-Kopf-Rennen lieferten, ist der Wahlausgang nicht vorhersehbar und eine Szenarioanalyse erforderlich. Dabei gilt es auch die künftigen Mehrheitsverhältnisse im US-Kongress zu berücksichtigen - also die Frage, ob der (die) nächste US-Präsident(in) „durchregieren“ könnte. Zu den wenigen Gewissheiten gehört erstens, dass Donald Trump im Falle seiner Wiederwahl eine radikal protektionistische Handelspolitik auch gegenüber Europa verfolgen wird. Höhere Handelsbarrieren wären schnell umsetzbar und könnten ihre wirtschaftliche Wirkung bereits im ersten Halbjahr entfalten. Zweitens ist absehbar, dass Trump wie auch Harris die hohe US-Staatsverschuldung in den nächsten Jahren weiter steigern werden - der eine über Steuersenkungen, die andere eher über steigende Staatsausgaben.
Beide Faktoren wirken in Richtung einer höheren Inflation und/oder eines schwächeren Wirtschaftswachstums - für die USA wie auch für den Rest der Welt. Hiermit verbindet sich die Erwartung eines verringerten geldpolitischen Handlungsspielraumes für die US-Notenbank. Die Entwicklung der US-Zinsmärkte scheint im Oktober diesem politischen Narrativ gefolgt zu sein, da die Akteure am US-Geldmarkt ihre Erwartungen künftiger US Leitzinssenkungen deutlich zurücknahmen. Jenseits aller politischen Unwägbarkeiten scheint das derzeit per Jahresende 2025 eingepreiste US-Leitzinsniveau von 3,50-3,75% aber auch fundamental eher gerechtfertigt als ein Jahresendwert von 2,75-3,00%, wie er noch im September eingepreist war. Für den US Treasurymarkt und die europäischen Bondmärkte folgt daraus ein geringeres Kurspotenzial für 2025.
Dabei unterstellt ist der Idealfall, dass die Wahl einen klaren Sieger hervorbringt. Dagegen droht im Falle eines knappen Wahlergebnisses eine Anfechtung des Ergebnisses durch den Verlierer, insbesondere falls dieser Trump heißt. Die Folge wäre eine u. U. längere Phase politischer Unruhe und wirtschaftlicher Unsicherheit, die entweder zu steigender Marktvolatilität führen oder sich als „Risk-off“ Modus zugunsten „sicherer“ Staatsanleihen und zulasten risikobehafteter Assets (Unternehmensanleihen, Aktien) auswirken könnte.
Hinweis: Diese Publikation dient ausschließlich der Information und beinhaltet keine Handlungsempfehlung. Die enthaltenen Aussagen stellen die aktuelle Ansicht der geschilderten Umstände sowie unverbindliche Analysen und Prognosen der Gothaer Asset Management AG zu gegenwärtigen und zukünftigen Marktverhältnissen dar, die ohne vorherige Ankündigung geändert werden können. Wertentwicklungen der Vergangenheit und Prognosen sind keine verlässlichen Indikatoren für zukünftige Wertentwicklungen. Trotz sorgfältiger Auswahl der Quellen und Prüfung der Inhalte übernimmt die Gothaer Asset Management AG keine Haftung oder Garantie für die Aktualität, Richtigkeit und Vollständigkeit der in dieser Publikation gemachten Informationen.
September 2024
Von: Marius Gero Daheim
Im Umfeld der US Leitzinswende haben die US- und Euroraum-Zinsmärkte im September durchwegs positive Gesamterträge erzielt. Der Startschuss der Fed am 18.09. mit einem eher überraschenden großen Zinsschritt nach unten hat die Fantasie der Märkte beflügelt und stärkere Zinssenkungserwartungen geschürt: Bis Jahresende sind nun knapp weitere drei Zinssenkungen zu je 25 Basispunkten eingepreist. Nicht nur die Geldmarkt-Terminkontrakte, sondern auch der volkswirtschaftliche Konsens erwartet den US Leitzins Mitte 2025 bei 3,25-3,50%. Auch für die EZB ist der Zinsoptimismus spürbar gestiegen; angesichts der jüngsten positiven Inflationsdaten bei gleichzeitig deutlich verschlechterten Stimmungsindikatoren wird der dritte Zinssenkungsschritt bereits im Oktober erwartet und bis Mitte 2025 weitere Leitzinssenkungen bis auf 2%.
Im Zuge dieser geldpolitischen Neueinschätzungen haben sich die Zinsstrukturkurven beiderseits des Atlantik deutlich versteilt: In den USA ist der Renditeabstand zwischen langen (10j.) und kurzen (2j.) Laufzeiten erstmals seit Februar 2022 wieder positiv. Auch die deutsche Zinsstrukturkurve weist erstmals seit Oktober 2022 wieder im Laufzeitenbereich zwischen 2 und 10 Jahren eine leicht positive Steigung auf. Parallel dazu haben wichtige Aktienindizes neue Allzeithochs markiert, die Risikobereitschaft der Investoren hat zugenommen. Hierzu trugen im September auch die neuen wirtschaftspolitischen Initiativen von Chinas Führung bei, von denen sich Wirtschaft und Finanzmärkte spürbare Konjunkturimpulse für die Weltwirtschaft versprechen. Insgesamt erscheint die Hoffnung berechtigt, dass sich die positive Rentenmarkt-Entwicklung zumindest bis Jahresende fortsetzen wird.
Jedoch ist Vorsicht geboten - sowohl mit Blick auf die Inflationsgefahren, die nach wie vor noch nicht vollständig gebannt sind, als auch auf die Rezessionsrisiken – vor allem für Deutschland, aber auch für die USA. Denn der dort begonnene Hafenarbeiterstreik an den großen Häfen der Ost- und Golfküste hätte das Potenzial, angesichts eines bereits fragilen US Arbeitsmarktes die Konjunkturstimmung zu kippen und die von der Fed bisher sorgsam vermiedene harte Landung der US Wirtschaft auszulösen, wie auch erneute Störungen der globalen Lieferketten. Hinzu kommt die US Präsidentschaftswahl, deren Ausgang weiterhin völlig offen ist und deren wirtschaftspolitische Konsequenzen schwer abzuschätzen sind.
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August 2024
Von: Marius Gero Daheim
Die Fed hat die geldpolitische Sommerpause mit ihrem jährlichen Symposium in Jaccksom Hole, Wyoming überbrückt und den Geldpolitikern aus aller Welt vom 22.-24. August ein Podium für geldpolitische „Guidance“ gegeben. Dies war wichtig und notwendig, um die im Sommerloch ausufernden Zinssenkungserwartungen einzufangen, die sich an einigen uneindeutigen und schwer zu interpretierenden makroökonomischen Datenveröffentlichungen entzündet hatten. Allen voran war dies der US Arbeitsmarktbericht mit seinem schwachen Stellenzuwachs und starkem Anstieg der Arbeitslosenquote. Hierfür dürfte insbesondere als Sonderfaktor der Hurricane Beryll eine Rolle gespielt haben; ein entsprechender Gegeneffekt wäre demnach im August-Bericht erwartbar. Überdies schränkt die derzeit hohe Zuwanderung die Aussagefähigkeit der US Arbeitsmarktdaten ein und erlaubt es u. E. nicht, den Juli-Anstieg der US Arbeitslosenquote als Rezessionssignal zu deuten.
Die von Fed Chef Powell für den 18. September angekündigte Leitzinssenkung ist bereits seit längerem Konsensmeinung - wegen der Fortschritte bei der Inflationseindämmung, nicht aber wegen vermeintlicher US Rezessionsrisiken. Das wichtige Signal von Jackson Hole ist daher nicht die Ankündigung per se, sondern die Aussage, dass die US Notenbank im Umfeld erhöhter Unsicherheit einen behutsamen Lockerungskurs (Gradualism“) einschlagen wird: Kleine Zinsschritte, die ihre Wirkung über einen längeren Zeitraum entfalten und der Zentralbank so eine Austarierung von Konjunktur- und Inflationsrisiken erleichtern.
Auch im Euroraum ist die Geldpolitik mit mehrdeutigen Datensignalen konfrontiert: die robuste Konjunktur auf der iberischen Halbinsel kontrastiert mit einer Stagnation in Deutschland; eine fallende Gesamtinflation geht einher mit unvermindert hoher Dienstleistungsinflation; der Lohndruck nimmt zwar graduell ab, ist aber nach wie vor überhöht. Auch die EZB ist daher gut beraten, den im Juli avisierten Kurs datenabhängiger Zinsentscheidungen unter Vermeidung von Vorfestlegungen beizubehalten. Auch wenn sich die Inflation im Euroraum im August bis auf 0,2% dem EZB-Zielwert genähert hat, ist absehbar, dass sie im 4. Quartal aufgrund von Basiseffekten erneut beschleunigen wird. Zinssenkungen per Autopilot würden in diesem Umfeld die Glaubwürdigkeit der Geldpolitik infrage stellen und schlimmstenfalls die Teuerung auf unerwünscht hohem Niveau zementieren.
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Juli 2024
Von: Marius Gero Daheim
Die Federal Reserve war nach den Zentralbanken Norwegens und Großbritanniens die erste große Notenbank, die auf die postpandemische Inflationswelle reagierte. Ihre erste Leitzinserhöhung erfolgte im Februar 2022; die EZB folgte erst mit vier Mo-naten Verzögerung im Juli 2022. Zwei Jahre später, während die Inflationswelle allmählich abebbt, zeigt sich ein anderes Bild: Die ersten Leitzinssenkungen wurden im Mai in Schweden und der Schweiz beschlossen. Die EZB folgte Mitte Juni, die BoE Ende Juli, während die Fed auch im Juli das restriktive Leitzinsniveau von 5,00-5,25% beibehielt.
Immerhin wurde von den US Währungshütern eine Zinssenkung im Juli diskutiert und von Fed-Chef Powell auch als Option für die kommende Fed Sitzung am 18. September bestätigt. Die zuletzt nur noch geringen Fortschritte bei der US Inflationseindämmung und der nach wie vor hohe Lohndruck als Hauptursache werden zwar nicht ignoriert. Jedoch hat die fortschreitende Abkühlung am US Arbeitsmarkt bzw. die Gefahr einer „harten Landung“ der US Konjunktur die Inflation vom Platz Eins der Priori-tätenliste der Fed verdrängt. Eine Leitzinssenkung um 25 Bp im September würde vor allem ein positives Signal an Unternehmen und Haushalte senden, die wirtschaftliche Bremswirkung der US Geldpolitik aber nur geringfügig mindern.
Die aus Marktsicht entscheidende Frage ist: Wie geht es nach September weiter? - Eingepreist sind mittlerweile wieder drei US Leitzinssenkungen bis Jahresende. Auch in Bezug auf die EZB hat der Zinsoptimismus in den letzten Wochen deutlich zugenommen: hier gelten zurzeit vier Senkungen bis März 2025 als ausgemacht. Gleichzeitig mangelt es aber nicht an Warnungen, dass eine schnelle Rückkehr der Leitzinsen auf ein „neutrales“ Niveau weder für die USA noch den Euroraum gerechtfertigt sei angesichts der fortbestehenden Inflationsrisiken. Strukturelle Faktoren wie Demografie, Fachkräftemangel, könnten eine Normalisierung des aktuell immer noch hohen Lohndrucks v.a. im Dienstleistungssektor verhindern. Nach der euphorischen Reaktion der Rentenmärkte auf die jüngsten Fed-Indikationen scheint das Potenzial für weitere Renditerückgänge nun erst einmal ausgereizt. Die verbleibende “letzte Meile“ der Inflation bis zum voraussichtlichen Erreichen des Zielwertes im Sommer 2025 bleibt ein holpriger Weg, auch für die Anleiherenditen.
Hinweis: Diese Publikation dient ausschließlich der Information und beinhaltet keine Handlungsempfehlung. Die enthaltenen Aussagen stellen die aktuelle Ansicht der geschilderten Umstände sowie unverbindliche Analysen und Prognosen der Gothaer Asset Management AG zu gegenwärtigen und zukünftigen Marktverhältnissen dar, die ohne vorherige Ankündigung geändert werden können. Wertentwicklungen der Vergangenheit und Prognosen sind keine verlässlichen Indikatoren für zukünftige Wertentwicklungen. Trotz sorgfältiger Auswahl der Quellen und Prüfung der Inhalte übernimmt die Gothaer Asset Management AG keine Haftung oder Garantie für die Aktualität, Richtigkeit und Vollständigkeit der in dieser Publikation gemachten Informationen.
Juni 2024
Die europäischen Rentenmärkte haben im Juni eine Achterbahnfahrt hinter sich gebracht. Die „üblichen Verdächtigen“ (z.B. der monatliche US Arbeitsmarktbericht) hatten hierbei wohl einen gewissen Anteil, ebenso wie die Geldpolitik der EZB. Deren erste Leitzinssenkung hätte eigentlich ein Positivfaktor sein sollen. Stattdessen wurde sie negativ aufgenommen, weil künftige geldpolitische Lockerungen unter den Vorbehalt weiterer Fortschritte bei der Inflationsbekämpfung gestellt wurden. Vor allem aber war es im Juni die Politik, die den volkswirtschaftlichen Daten und der Geldpolitik die Schau stahl. Dies scheint auf den ersten Blick überraschend, da sich für die Europawahl ein „Rechtsruck“ als Abstrafung amtierender nationaler Regierungen von Berlin bis Madrid bereits abgezeichnet hatte. Zudem wurde Europawahlen in der Vergangenheit eher wenig Bedeutung geschenkt. Letzteres hat sich offenbar geändert angesichts der zahlreichen geopolitischen, wirtschaftlichen und ökologischen Krisenherde sowie des Erstarkens der EU als politischem Akteur. Dass aber eine nationale Regierung, noch dazu im präsidialen politischen System Frankreichs, als Reaktion auf eine „verlorene“ Europawahl das Handtuch hinwirft, war nicht zu erwarten.
Populistische Regierungen waren in der EU bisher eher die Ausnahme (Österreich, Ungarn, Polen Italien); künftig dürften sie zur Normalität werden. Hieraus ergeben sich zweierlei Risiken. Die wirtschaftlichen lassen sich am Beispiel Italiens studieren, wo unter der Regierung Meloni der staatliche Interventionismus zunimmt und die Staatsverschuldung ausufert. Für ein Frankreich mit einer RN-Regierung wer-den zurzeit ähnliche Szenarien einer fiskalpolitischen Verschlechterung diskutiert. Die direkte Reaktion auf Macrons Ankündigung von Neuwahlen war daher ein sprunghafter Anstieg der Risikoprämien französischer Staatsanleihen. Längerfristig droht bei einer Erosion der fiskalpolitischen Disziplin in den größten Euro-Mitgliedstaaten eine „fiskalische Dominanz“, d.h. die EZB könnte ihr Preisstabilitäts-Mandat nicht mehr erfüllen. Mindestens ebenso gravierend wären die längerfristigen politischen Risiken populistischer Regierungen: Zum einen eine Erosion demokratischer Institutionen und eine gesellschaftliche Destabilisierung. Zum anderen eine Abkehr vom europäischen Integrationsprozess und damit eine politi-sche Schwächung Europas - gegenüber den USA, aber auch gegenüber der auf-strebenden Weltmacht China. Hoffnung schenkt immerhin die Erfahrung Polens, dass man populistische Regierungen auch abwählen kann.
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Chief Economist bei der Gothaer Asset Management AG.
Die Artikel auf dieser Seite stammen von Teammitgliedern aus dem Bereich Liquid Assets unter der Leitung von Fabian Deubel.
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